Die Betroffenheit ist allzu oft eingeübt, die Empathie routiniert. Wenn die Knechte des Todes anderen grausam das Leben nehmen, fehlen eigentlich die Worte. Was soll man da sagen? So ist es auch in diesen Tagen nach dem feigen, ehrlosen und terroristischen Massaker, das Anhänger der palästinensischen Hamas unter unbewaffneten jüdischen Menschen, die das Leben feierten, angerichtet haben. Junge Menschen wurden getötet, Frauen verschleppt, vergewaltigt und geschändet, Demente und Behinderte aus ihren Häusern gezerrt und auf den Straßen Gazas einer gaffenden Menge vorgeführt.
Neben all den Beileids- und Solidaritätsbekundungen gibt es aber immer wieder flugs jene, die ein „aber“ einbauen und das Leid der Palästinenser anführen. Und es gibt dieses laute, dröhnende Schweigen vieler Söhne und Töchter des Islam? Haben sie dazu nichts zu sagen? Oder entspricht das Schweigen jener Zustimmung, die andere tanzend auf den Straßen feiern?
Zweifelsohne ist vieles in Israel nicht im Lot. Aber ändert man das durch ein bestialisches Pogrom? Nichts, wirklich nichts kann diese bestialische Tat rechtfertigen. Auch viele der „eigenen Leute“ werden jetzt den Tod finden. Gewalt gebiert Gewalt, die wieder Gewalt gebiert. Der Rachereflex ist mächtig. Man möchte Genugtuung bekommen für die tödlichen Untaten.
Menschliche Rache aber kann keinen Ausgleich schaffen. Sie wird auf der anderen Seite nur neue Vergeltungs- und Rachesucht auslösen. So wird der Hass von Generation zu Generation weitergegeben. Kinder und unreife Jugendliche, die auf nackte Opfer spucken zeigen, dass die Unmenschlichkeit längst normal geworden ist; feixende Menschen, die einen vermeintlichen Sieg über arglose Menschen auch auf deutschen Straßen feiern, merken offenkundig gar nicht mehr, dass dieser „Sieg“ eine moralische Niederlage ist: Wenn schwer Bewaffnete Unbewaffnete niedermetzeln, ist das eine Niederlage der eigenen Menschlichkeit. Wie will man das rechtfertigen? Was glauben Sie denn?
Um den Hass zu durchbrechen, muss man die Täter zur Verantwortung ziehen. Bei den anderen aber braucht es Menschen, die anfangen, die Hand zu reichen. Es braucht Menschen, die das Leben mehr als den Tod lieben. Es braucht Menschen, die bereit sind, den Frieden zu schaffen. Wie aber soll das gelingen, wenn schon Kinder die Gewalt im Herzen tragen?
Unser aktives Gedächtnis umfasst nicht nur unsere eigenen Erinnerungen, sondern auch die Erfahrung unserer Eltern und Großeltern, die wir noch kennen. Sie mögen nicht alles aus ihrem Leben erzählen. Aber die Art wie sie leben, wovor sie Angst haben, worüber sie sich freuen, prägt auch das Leben der Enkelgeneration. Erst die vierte Generation ist von den Erfahrungen der Urgroßeltern schon zu weit weg; sie könnte neue Impulse finden, wenn ihre Großeltern und Eltern sie ihnen vorlebten. Wie aber soll das gelingen, wenn die jetzige Generation der Kinder und Jugendlichen von Hass und Verachtung des Lebens anderer geprägt ist. Es wird mindestens vier Generationen dauern, wenn man heute anfinge, den Frieden wirklich zu wollen – aber wer fängt an? Gibt es eine Hoffnung wider alle Hoffnung?
In den Texten des altehrwürdigen Bundes erweist sich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, den Christen auch als Vater Jesu Christi verehren, ein Gott ist, der das Leben will. Am 7. Oktober 2023 brachen die Mörder in das jüdische Fest Simchat Torah ein. Es ist eigentlich das Fest der Freude über die Weisung Gottes, von der es heißt:
„Und nun, Israel, hör auf die Gesetze und Rechtsentscheide, die ich euch zu halten lehre! Hört und ihr werdet leben, ihr werdet in das Land, das der HERR, der Gott eurer Väter, euch gibt, hineinziehen und es in Besitz nehmen.“ (Dtn 4,1)
Gott ist ein Gott des Lebens; seine Weisung ist Ermöglichung dieses Lebens. Mögen die Kinder Israels in diesen Tagen die richtigen Entscheidungen treffen, mögen alle Menschen guten Willens den Frieden unter den Völkern erstreiten. Gott stehe in diesen Tagen den Ermordeten, Leidenden Gequälten, Entführten, Verwundeten und Trauernden bei – egal auf welcher Seite sie stehen. Verliert die Menschlichkeit nicht. Deshalb:
„Wähle also das Leben, damit du lebst, du und deine Nachkommen.“ (Dtn 30,19)
Vielleicht wird die vierte Generation endlich Frieden finden.
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 13. Oktober 2023.
Author: Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine ist katholischer Theologe und Initiator der Katholischen Citykirche Wuppertal. Er tritt für eine Theologie ein, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht.
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